Das Jahr 2020 neigt sich zum Ende – und was für ein seltsames, bewegtes aber auch aufregendes Jahr das war… Zeit für einen Rückblick oder zumindest der Versuch davon:
Die Kurzform: Meine Güte, was war das denn!?
Die Langform – ist wirklich lang. Aber hey, es ist Lockdown, es gibt nichts Gutes auf Netflix mehr und Du bist sowieso schon mal hier. Da kannst Du auch einfach weiterlesen, oder?
Zumindest lässt sich eines sagen: 2020 endet für mich besser, als es begonnen hat. Kein Wunder, mein Start in dieses Jahr war ziemlich mies: Der Verlust meines alten Jobs als Projektmanager und Erwachsenenbildner für einen sozialen Verein vor Ort. Ein Unfall, der mich über endlos erscheinende Monate hinweg zwang, größtenteils auf der Couch zu liegen oder mich mehr Schlecht als Recht auf Krücken fortzubewegen. Die damit verbundene Unfähigkeit, meinen geliebten Sport (Brazilian Jiu Jitsu – kurz BJJ) auszuüben. Mich plötzlich bedürftig, hilflos und eingeschränkt zu fühlen – und das mit nur dürftigen Aussichten auf eine vollständige Genesung. Eine Gesamtsituation also, die mich auf vielen Ebenen – emotional, körperlich und finanziell – an einen Tiefpunkt brachte. Und dann kam auch noch sehr bald der erste Lockdown aufgrund der allgegenwärtigen Corona-Pandemie mit all seinen Einschränkungen und der
Herausforderung, als Single-Dad nun noch meine Kids emotional aufzufangen und im ganztägigen Homeschooling zu unterstützen. (Physik und Mathe der Gymnasialstufe…ugh!) Immerhin hatte ich nun schon Übung darin, zu Hause eingesperrt zu sein.
Krisen sind Chancen, wenn man ihnen den Beigeschmack der Katastrophe nimmt.
Aber – um Max Frisch zu paraphrasieren - sind Krisen auch Chancen, wenn man ihnen den Beigeschmack der Katastrophe nimmt. (Oder im schönen Sprachbild aus dem Brazilian Jiu Jitsu: When life brings you to your knees, you are in the perfect position for a double-leg-takedown…)
Für mich war dieser unfreiwillige Bruch mit meinem bisherigen Leben letztlich der notwendige Impuls, endgültig aus meiner Komfortzone herauszutreten. Zurückzublicken und zu sehen, dass mein altes Lebenskonzept zumindest beruflich eigentlich schon längst nicht mehr gepasst hat – und mich daran zu machen, ein Konzept für eine zukünftige Selbständigkeit zu schmieden. (Shoutout zu meinem ältesten Freund Sebastian Scheplitz von Translation Royale und meinem jüngsten Freund Victor Hamke von Muse & Mirror sowie meiner Gründungsberaterin Carmen Ernst , die mir immer wieder mit ihren Erfahrungen, Ratschlägen und kritischen Feedbacks weitergeholfen haben.)
Ich habe den Gedanken schon fast seit zwei Jahren mit mir herumgetragen. Damit gespielt. Ihn wieder verworfen. Zu unsicher, nicht an der Zeit, vielleicht doch nicht das Richtige…all die Zweifel und Ausreden eben, die Mensch sich erzählt um letztlich nicht aktiv zu werden. Keine dieser Ausreden zog nun mehr. Einen Schritt zurück gab es für mich nicht mehr, nur noch den nach vorne. (Wieder eine Lehre aus dem BJJ: Wenn Dir ein Weg versperrt wird, musst Du im Flow bleiben und nach neuen Wegen suchen, Deine Lage zu verbessern.) Meine Selbständigkeit sollte mir den Raum geben, endlich all meine Kompetenzen, Interessen und Erfahrungen zu kombinieren. Sie sollte mir die Freiheit geben, mich weiter zu entwickeln, neue Dinge zu lernen und auf eigene Faust meine eigenen Ideen und Projekte umzusetzen. Sie sollte außerdem anderen Menschen nützen und - ganz nebenbei - auch meine Existenz sichern. War ja nicht zu viel verlangt, oder?
Meine beruflichen Erfahrungen aus der Erwachsenenpädagogik, als Projektmanager und Systemischer Coach kombinierte ich mit meinen Erfahrungen in der Kink-Szene, fand und adaptierte Schnittstellen zu Tanz, Kampfkunst, Körperarbeit, Yoga, Tantra, Meditation und Fotografie.
Die unschätzbare Begegnung mit meiner Partnerin Sarah war schließlich der letzte Mosaik-Stein um mit einer Reihe von Seminaren, Workshops, Artikeln und Kunstprojekten, nach außen zu treten.
Ich habe im Laufe des Jahres verschiedene Begriffe für das ausprobiert, was wir machen: Paar- und Sexualtherapie, Sexual-Coaching, Berührungskunst, Kink-Coaching… Alles passt nur teilweise, fasst nie ganz das Ganze. Letztlich leisten wir in unserem Feld Pionierarbeit. Die Begriffe werden sich ebenso entwickeln wie unsere Konzepte.
Gemeinsam geben wir Workshops rund um Themen alternativer Sexualität und Beziehungskonzepte, um Kink und BDSM. Wir sind Mentoren für Paare und Einzelpersonen. Sind Kink-Educator, Sexualpädagog:innen und Shibari-Coaches. Leisten Aufklärungs-, Präventions- und Bildungsarbeit und unterstützen Menschen darin, neue Zugänge zu sich, ihrem Wesen, ihrer Sexualität und ihren Partner:innen zu finden. Wir öffnen Türen, bilden und empowern in einem Feld der Sexualität, in dem sich Menschen oft noch Stigmatisierungen ausgesetzt sehen für das, was sie fühlen und sich wünschen. (In den Worten einer queeren Bekannten: „Kink – it’s like being gay in the 90’s.“) Menschen, die sich aus Angst vor dem Unbekannten und darüber, was andere über sie sagen und denken könnten, selbst verleugnen. Menschen, die in ihrer Unsicherheit, Unerfahrenheit oder Neugierde oft besonders verletzlich sind. Menschen, die Orientierung suchen, Hilfestellung brauchen oder einfach hören müssen: „Du bist anders. Und das ist okay.“ Wir helfen ihnen, ihre Angst und Unsicherheit zu überwinden. Die Angst vor Ablehnung und Verlust. Die Angst vor Stempeln und Schubladen. Die Angst und Scham vor sich selbst, weil das eigene Sehnen nicht in die gesellschaftlich formulierte Normalität und dem damit verbundenen Entwurf ihrer Selbst passt.
Unsere Arbeit ist aber auch für jene, die endlich einen Teil von sich entdecken wollen, den sie viel zu lang ignoriert haben und nun endlich ihr „Coming Out“ haben wollen. Für all jene, die einfach nur neugierig sind, ohne sich gleich in eine Schublade stecken lassen zu wollen.
Diesen Menschen bieten wir einen Raum, in dem sie urteilsfrei, offen und sicher kommunizieren, lernen und entdecken können. Ein Raum zum Fallenlassen, zum Lachen und Unterhalten.
Der Bedarf an unserer Arbeit lässt sich mit Zahlen belegen: In unseren wenigen Präsenz-Workshops im Sommer waren insgesamt über hundert Menschen, oft reisten die Teilnehmer:innen (zu unserer anfänglichen Überraschung) selbst für eintägige Veranstaltungen aus ganz Deutschland nach Halle an. Unsere verschiedenen Online-Veranstaltungen wurden zeitweise von bis zu 6000 Menschen gesehen und bei unseren ersten virtuellen Workshops in englischer Sprache diesen Monat nahmen Menschen aus Portugal, Kolumbien, Brasilien, Albanien und den USA teil. Wir schreiben Artikel und erstellen Beiträge für verschiedene Dating-Plattformen wie dem JOYclub und der Deviance-App, arbeiten mit anderen Künstler:innen aus Deutschland, Europa und Amerika zusammen – und im Oktober wurde ich als Gastdozent an die Hochschule Merseburg geladen, um für den Masterstudiengang der Sexualwissenschaftler:innen ein Blockseminar zu geben, mit Sarah an meiner Seite. Vor ein paar Monaten haben wir außerdem unseren Online-Shop mit fair produzierten, nachhaltigen Produkten eröffnet, in dem wir mit erstem Erfolg Kleidung, Accessoires und Designs rund um das Thema Kink und Shibari in ganz Europa und Amerika verkaufen. Und auch als Modell und Fotograf finden Sarah und ich dank Instagram inzwischen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Der Erfolg, der sich nicht in Zahlen belegen lässt, liegt in dem, was die Teilnehmer:innen aus unseren Veranstaltungen mitnehmen.
Immer wieder erreichen und bereichern uns Feedbacks, in denen Menschen Danke sagen. Danke dafür, dass wir ihnen den sicheren Raum gegeben haben, zu sich zu finden. Danke dafür, dass unsere Arbeit für sie gängige Klischees und Vorurteile ausräumen. Danke dafür, dass unsere Konzepte ihnen geholfen haben, neue Möglichkeiten der Kommunikation mit de:r Partner:in zu finden – sich selbst in langjährigen Partnerschaften neu zu sehen und zu entdecken. Sei es das frisch verliebte Paar mit Dreads und VW-Bus, dass über Shibari als Kommunikationsinstrument bisher verborgene Facetten aneinander entdeckt, oder sei es das Rentner:innen-Paar, dass uns ein paar Wochen nach einem privaten Mentoring begeistert schreibt, dass sie im anschließenden Urlaub sowas wie zweite Flitterwochen miteinander gehabt hätten.. Der Wunsch nach echter Intimität, danach, wirklich gesehen zu werden und sich dem Gegenüber anvertrauen zu können, hat kein Alter, kein Geschlecht, keine Nationalität. Und wir sind immer wieder dankbar und bewegt zu sehen, was unsere Arbeit anderen zu geben vermag.
Natürlich gibt es auch Herausforderungen. Zweifel. Frust. Wenn Corona mal wieder alle Pläne und Arbeit für Workshops und Veranstaltungen zu Nichte macht. Wenn für ein paar Tage niemand im Shop kauft oder unsere Online-Veranstaltungen nicht genug gebucht werden und es gegen Ende des Monats mal wieder eng wird. Wenn ich meine Arbeit mal wieder unter Wert verkauft habe, weil ich diesen verdammten Glaubenssatz im Kopf noch nicht überwunden habe, dass mein Wert und der Wert meiner Arbeit von jemand anderen bemessen werden muss, als von mir. Wenn man mal wieder mit diesem gewissen Blick angeschaut wird, wenn das Gespräch darauf kommt, was ich eigentlich beruflich mache. Auch auf Beziehungsebene gab es schmerzhafte Veränderungen. Manchmal drohen mir die Verantwortung und die vielen Aufgaben über den Kopf zu wachsen, die ich jonglieren muss: Ich bin Coach, Mentor, Fotograf, Geschäftsführer, Webdesigner, Buchhalter, Projektmanager, Kameramann, Veranstaltungstechniker, Autor, Einkäufer, Verkäufer, Mediengestalter, Netzwerker etc. in einem. Und engagiere mich „nebenbei“ weiterhin ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendhilfe. (Vom Thema Lockdown und Homeschooling fange ich erst gar nicht wieder an.)
Dann kommen wieder die Zweifel hoch. Kommt dieser Wunsch, mir wieder was vermeintlich Sicheres zu suchen. Zurück in die alte Lohnerwerbstätigkeit zu gehen. Aber dann ist da wieder eine neue Bestellung in meinem Postfach. Wird unser neues Workshopkonzept mit Freude angenommen. Kommt das dankbare Feedback einer Workshopteilnehmer:in darüber, wie nachhaltig positiv die Zeit mit uns sich auf sie und ihr Leben ausgewirkt hat. Tja, und dann weiß ich wieder, dass sich weitermachen lohnt. Das meine Arbeit – unsere Arbeit – genau die richtige ist. Für mich. Und für Andere.
Schließlich mache ich hier etwas, was ich wirklich liebe.
Etwas, dass mich antreibt, mich zu entwickeln. Mich wachsen lässt. Ich möchte all die Lernerfahrungen und die Begegnungen nicht missen, die ich dieses Jahr machen durfte. Also, 2020 – Danke, trotz allem. Und Du, 2021 – Let’s do this!
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